Skip to main content

„Die Tür bleibt zu“

„Die Tür bleibt zu“

„Die Tür bleibt zu“

Beitrag von Bettina Jung

Die Tür blieb zu.

Wenige Stunden später ging die Tür auf, der junge Verstorbene trug einen selbst gestrickten Pullover, auf ihm verstreut waren getrocknete Rosenblätter.

Ich hatte etwas für mein Leben gelernt.

Was hatte es aber mit der Tür auf sich?

Ich abeitete damals als Fachkrankenschwester auf Intensivstation, war Anfang 20. Im Zimmer hinter der genannten Tür lag ein junger Mann, vielleicht 10 Jahre älter als ich. Er war an diesem Tag gestorben. Bei ihm seine Frau und sein Vater. Er hatte eine lange Krankheit hinter sich, jetzt waren die Geräte nach Hirntod abgestellt worden. Ich war sehr berührt von den letzten Tagen, in denen ich diesen Mann pflegerisch versorgt hatte.
Die Angehörigen hatten uns um Waschzeug gebeten, weil sie in einem Ritual Abschied nehmen wollten.
Der Oberarzt der Station dagegen wollte das Zimmer schnell geräumt sehen, doch mein Kollege Philipp (Name geändert) springt mir zur Seite, stellt sich vor die Zimmertür auf der Intensivstation und sagt: „Die Tür bleibt zu. Solange, wie diese Angehörigen Zeit brauchen. Und wir noch ein freies Bett haben.“ Vor sich hin schimpfend dreht der Oberarzt ab. Die Tür blieb zu.

Wenige Stunden später ging die Tür auf, der junge Verstorbene trug einen selbst gestrickten Pullover, auf ihm verstreut getrocknete Rosenblätter. Die Rosenblätter waren von der Rose, die tagelang ohne Wasser auf seinem Bett gelegen hatte. Anfangs hatte ich sie immer wieder in eine Vase gestellt, dann hatte mich seine Frau gebeten, das bitte sein zu lassen. Jetzt hatte ich es verstanden.

Den Moment, als ich dieses Totenbett mit den Rosenblättern sah, werde ich nie vergessen.  Etwas in mir fing an zu verstehen, was Spiritualität bedeuten könnte und wie menschlich elementar es ist, dass wir diesem Teil von uns Raum geben. Es hatte mit Zuhören und das Gegenüber wahrnehmen zu tun, mit Stille.

„Man sieht nur mit dem Herzen gut.“

— Antoine de Saint-Exupéry

Mein Kollege Philipp konnte wahrnehmen, was diese Menschen in dieser schrecklichen Situation brauchten. Auch das kleine 2-3jährige Kind durfte Abschied nehmen von seinem Papa, der jetzt einen schönen Pullover trug.

Obwohl die Verhältnisse auf einer Intensivstation das eigentlich nicht hergeben, hat mein Kollege es ermöglicht.

— Foto: Paul Müller

Ein Vorbild

Philipp ist für mich ein Vorbild geblieben, bis heute. Gerade in Bezug auf Führung und Hierarchie hat mich diese Erfahrung nachhaltig beeindruckt. Entgegen der Statushierarchie war Philipp derjenige, der den Versorgungsprozess dieses Patienten führte, mir damit zur Seite sprang. Nein, er war nicht Stationsleiter. Sondern er sah sich vollständig verantwortlich für die Versorgung dieses konkreten Patienten und seiner Angehörigen. Er gab diese Verantwortung nicht ab, sondern blieb in seiner inneren Autorität, auch als ein Oberarzt qua Reputationsmacht einschreiten wollte. Die Visite machte später einen großen Bogen um das Zimmer. Der Stationsbetrieb wurde durch nichts gestört.

Wer führte eigentlich in dieser Geschichte? Mit welchem Mandat?

Das möchte ich hier betrachten, indem ich das Führungsmodell von Vera Starker in New Work in der Medizin, S. 137 ff, zu Rate ziehe. Sie unterscheidet zwischen Führung im Sinne der (1) Compliance-Hierarchie (nach Nils Pfläging), der (2) Fachentscheidungshierarchie und der (3) eigentlichen Führung im interaktivem Beziehungsprozess des Teams:

Die medizinische Fachkompetenz des Oberarztes war in diesem Fall für den Patienten nicht mehr relevant. In seiner Leitungsfunktion war der Oberarzt verantwortlich für das freie Notfallbett, was gegeben war. Das Zimmer des Verstorbenen musste also nicht dringend geräumt werden. Auch wirtschaftlich hatten 2 Stunden mehr oder weniger keine Auswirkung.

Die pflegerische Schichtleitung belies es in Philipps Verantwortung, so zu handeln, wie er es für richtig hielt. Sie vertraute seiner Kompetenz, es gab keinen Anlass, sich einzumischen. Das Notfallbett war ja frei. Ich als die für den Patienten verantwortlich Pflegekraft nahm dankbar Philipps Hilfe an. Mir wird heute klar, dass unsere Arbeitsweise auf dieser Station sehr hohe selbstorganisatorische Anteile hatte. Das war vor weit mehr 20 Jahren.  

Philipp muss sich psychologisch sicher in unserem Team gefühlt haben. Wer sich in einer Gruppe oder Team sicher fühlt, traut sich zu widersprechen oder etwas ganz anders zu machen – entgegen alle Gepflegenheiten.

Um die Frage zu beantworten – Philipp führte.

Ich erzähle diese Geschichte, weil sie wichtig ist. Ich halte sie für wichtig, weil wir an ihr erkennen können, wieviel da ist, um

  • unser Gesundheitswesen besser zu machen
  • Verhältnisse zu schaffen, in denen, Gesundheitsberufe sinnstiftend ausgeübt werden können,
  • in uns selbst Ressourcen zu entdecken, unsere Selbstwirksamkeit zu stärken und im Rahmen unserer Möglichkeiten für gute Verhältnisse zu sorgen.

Ich weiß nicht, wer von uns so wie Philipp gehandelt hätte. Ich wünsche unserem Gesundheitswesen viele Philipps und Philippas!

Auf dem Ärztetag in Aschaffenburg am 8. Oktober 2022 durfte ich eine Schulmedizinerin kennenlernen, die den Satz „Ich wünsche mir für unser Gesundheitswesen …“ so vervollständigte:

„Ich wünsche mir für unser Gesundheitswesen … mehr Spiritualität“.  

Und wieder musste ich sehr dankbar an diese schon lange vergangene Geschichte mit den Rosenblättern denken – und schrieb diesen Beitrag.

Weiterlesen

„Das behalte ich besser für mich!“, sagte Alex zu sich selbst

„Das behalte ich besser für mich!“, sagte Alex zu sich selbst

„Das behalte ich besser für mich!“, sagte Alex zu sich selbst

Beitrag von Bettina Jung

Alex ist Mitarbeiterin auf einer Krankenstation und beobachtet seit einer Weile, dass die Kolleg:innen vieles doppelt dokumentieren. Papier – PC – pdf – Ausdruck – Akten. Sie versteht nicht wozu, denn sie erkennt die Möglichkeit, mit geringen Veränderungen Arbeitsschritte auszulassen. Aber, sie hat auch beobachtet, wie die anderen gerne alles lassen wie es ist.

Alex ist ein zurückhaltender Typ. Sie (oder er) schweigt.

Zwei Monate später hilft Alex auf einer anderen Station aus, wo das Team ähnlich arbeitet. Etwas ist jedoch anders: Dort bringt sie ihre Idee nach 3 Tagen ein, Alex spricht.

Was genau führt dazu, dass sich Alex so unterschiedlich verhält?

In den frühen 2000ern forschte Amy Edmondson zu dem Phänomen, warum Menschen gute Ideen einbringen oder auch nicht. Es hat mit dem Risiko zu tun, dass wir Missbilligung ernten könnten, wenn wir neue Ideen einbringen oder Bestehendes hinterfragen. Je nachdem, welche Kultur in der Gruppe herrscht und wie sich die Leitung verhält, ist dieses Risiko unterschiedlich groß.  

Warum ist das so wichtig?

Daran, ob das Risiko der Missbilligung relativ gering ist, entscheidet sich, ob ein Team in der Lernzone unterwegs ist. Das bedeutet, Vertrauen, Selbstverantwortung und Lernbereitschaft sind da und können wachsen. Erfolgsfaktoren für gelingende Selbstorganisation.

In diesem Videomitschnitt erklärt Professorin Dr. Julia Schorlemmer genauer, was es mit psychologischer Sicherheit auf sich hat:

„Nur wer gehört wird spricht“

— Amy Edmondson

Das Wissen um diesen Zusammenhang macht mir einmal mehr bewusst, wie relevant es ist, das wir zuhören lernen.

„Nur wer spricht wird gehört“

— Sabine Kluge

Auch das leuchtet ein. Es geht also um das Zusammenspiel dieser zwei Seiten. An dieser Stelle werden Methoden wichtig. Ein Methodenkoffer, der für Settings und Rahmenbedingungen sorgt, die Menschen dazu ermutigen zu sprechen UND zuzuhören.

Wie Alex oben. Auf der zweiten Station gab es wöchentliche Reflektionsrunden in Bezug auf die Zusammenarbeit. Die Leitung und zwei Kolleginnen sorgten dafür, dass diese kurzen Runden tatsächlich stattfanden. Genau das machte den Unterschied.

Sechs Hände halten jeweils eine Glühbirne hoch

Das Wissen im Team wächst, wenn die Alexandras und Alexander sprechen …. dürfen. Es entwickelt sich ein lernendes Team.

#Mut
#Leadership
#Verantwortung

Weiterlesen