„Die Tür bleibt zu“
Wenige Stunden später ging die Tür auf, der junge Verstorbene trug einen selbst gestrickten Pullover, auf ihm verstreut waren getrocknete Rosenblätter.
Was hatte es aber mit der Tür auf sich?
Wenige Stunden später ging die Tür auf, der junge Verstorbene trug einen selbst gestrickten Pullover, auf ihm verstreut getrocknete Rosenblätter. Die Rosenblätter waren von der Rose, die tagelang ohne Wasser auf seinem Bett gelegen hatte. Anfangs hatte ich sie immer wieder in eine Vase gestellt, dann hatte mich seine Frau gebeten, das bitte sein zu lassen. Jetzt hatte ich es verstanden.
Den Moment, als ich dieses Totenbett mit den Rosenblättern sah, werde ich nie vergessen. Etwas in mir fing an zu verstehen, was Spiritualität bedeuten könnte und wie menschlich elementar es ist, dass wir diesem Teil von uns Raum geben. Es hatte mit Zuhören und das Gegenüber wahrnehmen zu tun, mit Stille.
— Antoine de Saint-Exupéry
Mein Kollege Philipp konnte wahrnehmen, was diese Menschen in dieser schrecklichen Situation brauchten. Auch das kleine 2-3jährige Kind durfte Abschied nehmen von seinem Papa, der den schönen Pullover trug.
Obwohl die Verhältnisse auf einer Intensivstation das eigentlich nicht hergeben, hat mein Kollege es ermöglicht.
— Foto: Paul Müller
Philipp ist für mich ein Vorbild geblieben, bis heute. Gerade in Bezug auf Führung und Hierarchie hat mich diese Erfahrung nachhaltig beeindruckt. Entgegen der Statushierarchie war Philipp derjenige, der den Versorgungsprozess dieses Patienten führte, mir damit zur Seite sprang. Nein, er war nicht Stationsleiter. Sondern er sah sich vollständig verantwortlich für die Versorgung dieses konkreten Patienten und seiner Angehörigen. Er gab diese Verantwortung nicht ab, sondern blieb in seiner inneren Autorität, auch als ein Oberarzt qua Reputationsmacht einschreiten wollte. Die Visite machte später einen großen Bogen um das Zimmer. Der Stationsbetrieb wurde durch nichts gestört.
Das möchte ich hier betrachten, indem ich das Führungsmodell von Vera Starker in New Work in der Medizin, S. 137 ff, zu Rate ziehe. Sie unterscheidet zwischen Führung im Sinne der (1) Compliance-Hierarchie (nach Nils Pfläging), der (2) Fachentscheidungshierarchie und der (3) eigentlichen Führung im interaktivem Beziehungsprozess des Teams:
Die medizinische Fachkompetenz des Oberarztes war in diesem Fall für den Patienten nicht mehr relevant. In seiner Leitungsfunktion war der Oberarzt verantwortlich für das freie Notfallbett, was gegeben war. Das Zimmer des Verstorbenen musste also nicht dringend geräumt werden. Auch wirtschaftlich hatten 2 Stunden mehr oder weniger keine Auswirkung.
Die pflegerische Schichtleitung belies es in Philipps Verantwortung, so zu handeln, wie er es für richtig hielt. Sie vertraute seiner Kompetenz, es gab keinen Anlass, sich einzumischen. Das Notfallbett war ja frei. Ich als die für den Patienten verantwortlich Pflegekraft nahm dankbar Philipps Hilfe an. Mir wird heute klar, dass unsere Arbeitsweise auf dieser Station sehr hohe selbstorganisatorische Anteile hatte. Das war vor weit mehr 20 Jahren.
Philipp muss sich psychologisch sicher in unserem Team gefühlt haben. Wer sich in einer Gruppe oder Team sicher fühlt, traut sich zu widersprechen oder etwas ganz anders zu machen – entgegen alle Gepflegenheiten.
Um die Frage zu beantworten – Philipp führte.
Ich erzähle diese Geschichte, weil sie wichtig ist. Ich halte sie für wichtig, weil wir an ihr erkennen können, wieviel da ist, um
Ich weiß nicht, wer von uns so wie Philipp gehandelt hätte. Ich wünsche unserem Gesundheitswesen viele Philipps und Philippas!
Letzte Woche durfte ich eine Schulmedizinerin kennenlernen, die aufgefordert diesen Satz zu vervollständigen „Ich wünsche mir für unser Gesundheitswesen …“ sagte:
„Ich wünsche mir für unser Gesundheitswesen … mehr Spiritualität“.
Und wieder musste ich sehr dankbar an diese schon lange vergangene Geschichte mit den Rosenblättern denken.
Cookie | Dauer | Beschreibung |
---|---|---|
cookielawinfo-checkbox-necessary | 11 Monate | Dieses Cookie wird vom GDPR Cookie Consent Plugin gesetzt. Das Cookie wird verwendet, um die Zustimmung des Nutzers für die Cookies der Kategorie "Notwendig" zu speichern. |
viewed_cookie_policy | 11 Monate | Das Cookie wird vom GDPR Cookie Consent Plugin gesetzt und wird verwendet, um zu speichern, ob der Nutzer der Verwendung von Cookies zugestimmt hat oder nicht. Es speichert keine persönlichen Daten. |